Paradontitis eine immunologische Erkrankung mit genetischer Komponente
S. Schütt, Berlin
Die Parodontitis ist eine chronisch entzündliche Erkrankung, deren Entstehung und Progression durch unterschiedliche Faktoren bedingt wird. Neben exogenen Risikofaktoren, wie Rauchen, Stress und mangelnde Mundhygiene, gilt allgemein eine Verschiebung des mikrobiellen Keimspektrums in der Mundhöhle und die damit einhergehende steigende Pathogenität des Biofilms als wichtigster initialer Faktor einer Parodontitis. Ausmaß und Verlauf der Erkrankung wird dann aber durch die körpereigene Entzündungsreaktion des Patienten bestimmt. Bereits 1997 wies Kornman darauf hin, dass man dem auslösenden Reiz (Biofilm) auch immer die individuelle inflammatorische Wirtsreaktion gegenüberstellen muss. Die individuelle Entzündungskompetenz eines jeden Patienten wird durch genetische Varianten (Polymorphismen) in den für die Immunantwort relevanten Genen bestimmt und erklärt den genetischen Faktor als einen entscheidenden Risikofaktor für die Progression der Parodontitis.
Die Genetik spielt eine wichtige Rolle bei der Parodontitis
Untersuchungen bei Zwillingen verdeutlichten, dass die Genetik ein kausaler Faktor für die unterschiedlichen Verläufe der Parodontitis ist. Während bei genetisch identischen eineiigen Zwillingen unterschiedliche Ausprägungen einer Erkrankung nur durch äußere Faktoren bedingt sein können, können bei genetisch nicht identischen zweieiigen Zwillingen neben den äußeren Faktoren auch genetische Faktoren für Unterschiede zwischen den Zwillingen verantwortlich sein. Michalowicz zeigte in einer Studie an 110 Zwillingspaaren, dass sich die eineiigen Zwillinge hinsichtlich Taschentiefe, Attachment-Verlust, Plaque und Gingivitis signifikant ähnlicher waren. Da in der Studie die äußeren Einflussfaktoren für alle Zwillingspaare identisch waren, müssen die unterschiedlichen klinischen Marker bei den zweieiigen Zwillingen je nach Marker zu 38-82 % erblich bedingt sein. Durch Familienstudien wurde ebenfalls belegt, dass das familiär gehäufte Auftreten der Parodontitis im Wesentlichen genetisch bedingt ist.
Eine genetische Disposition zur Parodontitis ist daher nach heutigem Wissensstand unbestritten. Da die Entzündungsreaktion bei der chronischen Parodontitis pathognomisch ist, überrascht es nicht, dass vor allem Gene der Entzündungsfaktoren eine Hauptrolle bei der Ausprägung des Parodontitisschweregrades spielen.
Der Verlauf der parodontalen Entzündungsantwort wird durch das Verhältnis pro- und antientzündlicher Zytokine bestimmt
Auslösender Reiz für die Entzündungskaskade ist der subgingivale (Parodontitis) bzw. supragingivale (Periimplantitis) Biofilm. Durch das Saumepithel diffundierende bakterielle Mediatoren, wie z. B. Liposaccharide (LPS), werden durch Gewebemakrophagen phagozytiert. Die durch diese Konfrontation aktivierten Makrophagen sezernieren proentzündliche Zytokine, insbesondere Interleukin-1 (IL-1), Tumor-Nekrose-Faktor-alpha (TNF-α) und Interleukin-6 (IL-6). Durch die Ausschüttung dieser Zytokine kommt es zur lokalen Aktivierung des Gefäßendothels, was die Infiltration weiterer Immunzellen fördert (Chemotaxis). Im Rahmen des parodontalen Entzündungsgeschehens sind die durch die genannten Zytokine initiierten gewebedestruktiven Vorgänge von zentraler Bedeutung. IL-1, TNF-α und IL-6 aktivieren über eine Steigerung der RANKL-Expression die Osteoklasten, was mit einer erhöhten Alveolarknochenresorption einhergeht. Zusätzlich steigern diese Zytokine die Freisetzung der gewebeabbauenden Matrixmetalloproteinase-8 (MMP-8). Zur Verhinderung eines chronischen Entzündungsgeschehens wird die initiierte Entzündungsantwort im Normalfall zeitversetzt durch die Ausschüttung der antientzündlichen Zytokine IL1-Rezeptorantagonist (IL1RN) und IL-10 gebremst. Beide Zytokine hemmen die IL-1-, TNF-α- und IL-6-Freisetzung, die T-Zellproliferation und damit einhergehend die Endothelaktivierung, wodurch die Infiltration weiterer Immunzellen ins Gewebe limitiert wird. IL-10 schützt vor destruktiven Entzündungsvorgängen, in dem es einerseits über eine gesteigerte TIMP-Freisetzung (TIMP = Tissue Inhibitor of MMPs, Gegenspieler des MMP-8) Gewebeabbau bremst und andererseits über die OPG-Induktion (OPG = Osteoprotegerin, Gegenspieler des RANK) den Knochenabbau verhindert.
Der Verlauf der parodontalen Entzündungsantwort wird somit durch das Verhältnis pro- und antientzündlicher Zytokine bestimmt. Mit welcher Intensität die Zytokine im Rahmen der Immunantwort freigesetzt werden, ist durch Polymorphismen in den Genen der Zytokine individuell festgelegt. Im Folgenden wird auf die Genpolymorphismen eingegangen, die nach aktuellem Stand der Literatur mit der Parodontitisprogression assoziiert sind.
Interleukin-1-Gencluster
Der enge Zusammenhang zwischen dem Schweregrad einer Parodontitis und der Konzentration lokaler Entzündungszytokine, insbesondere IL-1, ist vielfach beschrieben. Im entzündeten Parodontalgewebe und in der gingivalen Saumflüssigkeit kommt es nachweislich zu einer erhöhten IL-1/IL1RN-Ratio. Der IL-1-Gencluster liegt auf dem Chromosom 2 und umfasst die Gene für IL1-α (IL1A), IL-1β (IL1B) und den IL-1-Rezeptorantagonisten (IL1RN). Für 2 Polymorphismen im IL-1-Gen ist die funktionelle Bedeutung belegt. Der eine ist an Position -889 in der Promoterregion des IL1A-Gens (C/T), der 2. liegt an der Stelle -3953 (C/T) des IL1B-Gens. Liegt bei beiden Polymorphismen das T-Allel vor, kommt es zu einer gesteigerten IL-1-Synthese und damit einhergehend zu einer gesteigerten Entzündungskapazität. Diese Entzündungsaktivität wird noch zusätzlich verstärkt, wenn im IL1RN-Gen der Polymorphismus T-2018C vorliegt, der zu einer verminderten Freisetzung des antientzündlichen Gegenspielers IL1RN führt. Die genannten Genotypen zeigen eine enge Assoziation zur Parodontitis. Kornman zeigte, dass Patienten bei gegebener bakterieller Belastung häufiger und ausgeprägter eine Parodontitis entwickeln als altersgleiche Probanden ohne diese Polymorphismen. Das Risiko des Zahnverlustes ist in der genotypisch auffälligen Population 2,7-mal höher. Die Kombination von Rauchen und einem positiven IL1-Genotyp erhöht die Häufigkeit des Zahnverlustes um den Faktor 7,7. In der gleichen Studie wurde die Bedeutung der IL1-Polymorphismen auch unabhängig vom Raucherstatus gezeigt. Die funktionelle Bedeutung der IL1-Polymorphismen ist auch durch die Tatsache belegt, dass bei Trägern der Polymorphismen im Rahmen einer Parodontitis höhere IL1-Spiegel in der gingivalen Saumflüssigkeit vorliegen als bei Nichtträgern.
TNF-α
Das TNF-α-Gen liegt auf dem Chromosom 6. Ein G/A-Polymorphismus an der Stelle -308 im Promoter des Gens geht mit einer bis zu 7-fach gesteigerten TNF-α-Gen-Expression einher. Galbraith et al. wiesen bei Patienten mit therapieresistenter Parodontitis und Trägern des A-Allels im TNF-α-Gen eine gesteigerte TNF-α-Freisetzung durch orale Schleimhautleukozyten nach. Bei der experimentellen Periodontitis lassen sich durch Blockierung der TNF-α- und IL-1-Effekte durch lösliche Rezeptoren die Entzündung und die Knochenresorption hemmen. Der mit einer erhöhten TNF-α-Transkriptionsaktivität einhergehende -308G/A-Polymorphismus wurde in diversen Studien häufiger bei Patienten mit bronchialer Hyperreaktivität und Asthma, Diabetes mellitus Typ I, Psoriasis-Arthritis, Lupus erythematosus und chronisch entzündlichen Darmerkrankungen nachgewiesen.
Aufgrund der herausragenden Bedeutung der proentzündlichen Schlüsselzytokine TNF-α und IL-1 sowie deren Gegenspieler IL1RN für die individuelle Entzündungsneigung hat es sich durchgesetzt, anhand der erläuterten genetischen Konstellationen die Entzündungsprädisposition in 5 Graden zu beschreiben. So werden Patienten mit Entzündungsgrad 0 und 1 als Low-Responder bezeichnet, da eine normale oder allenfalls geringfügig erhöhte Entzündunsgkapazität vorliegt. Bei GRAD-3- und -4-Patienten, sogenannten High-Respondern, liegt hingegen genetisch festgelegt eine stark erhöhte Entzündungsbereitschaft vor.
Auch wenn die Stärke der initialen Entzündungsantwort vor allem durch TNF-α und IL-1 festgelegt wird, spielen andere Zytokine in der Modulation eine nicht unbedeutende Rolle.
Interleukin-6
Das proinflammatorische Zytokin IL-6 wird u. a. von Makrophagen, Fibroblasten, Epithelzellen und T-Zellen sezerniert. IL-6 steigert in Epithelzellen, Granulozyten, Fibroblasten und Makrophagen die MMP-8-Freisetzung. Eine erhöhte IL-6-Expression ist nicht nur für die Parodontitis, sondern auch für andere chronisch entzündliche Erkrankungen, wie z. B. die rheumatoide Arthritis, gezeigt. Bei einer Porphyromonas-gingivalis-induzierten parodontalen Entzündung wird über eine gesteigerte IL-6-Synthese die Knochenresorption induziert. Moreira et al. zeigten, dass die IL-6-Expression mit dem Attachment-Verlust korreliert. Bei einer erfolgreichen Parodontaltherapie geht die IL-6-Sekretion deutlich zurück. Das IL-6-Gen liegt auf dem Chromosom 7. Ein G/C-Polymorphismus im Promoter des Gens an der Stelle -174 hat Einfluss sowohl auf die IL-6-Transkription als auch auf die IL-6-Proteinsekretion. Das G-Allel geht mit einer erhöhten IL-6-Freisetzung einher. In Studien zur Parodontitis wurde das G-Allel mit chronischen und auch aggressiven Krankheitsverläufen assoziiert.
Der Fakt, dass bei Trägern des G-Allels (erhöhte IL-6-Freisetzung) erhöhte Keimlasten an Aggregatibacter actinomycetemcomitans und Porphyromonas gingivalis verglichen mit Trägern des C-Allels (normale IL-6-Freisetzung) gefunden wurden, verdeutlicht, dass eine genetisch bedingte, zu starke Entzündungsantwort mit einem chronischen Krankheitsverlauf einhergeht, bei dem die parodontopathogenen Keime zwar initialer Auslöser sind, die unkontrollierte, gesteigerte körpereigene Entzündung dann aber für die Progression der Erkrankung verantwortlich ist. Insofern ist es heute unbestritten, dass die Bakterien zwar einen wichtigen Trigger darstellen, die chronische Parodontitis aber vorrangig als immunologisches und nicht nur als infektiologisches Geschehen anzusehen ist.
Interleukin-10
Neben dem IL1RN stellt auch Interleukin-10 (IL-10) ein antiinflammatorisches Zytokin dar. Es wird bei einer Entzündungsreaktion zeitversetzt von Makrophagen und T-Zellen sezerniert. IL-10 schützt vor destruktiven Entzündungsvorgängen, indem es einerseits über eine gesteigerte TIMP-Freisetzung Gewebeabbau bremst und andererseits über die OPG-Induktion den Knochenabbau verhindert.
Für das auf dem Chromosom 1 liegende Gen des IL-10 sind mehrere Promoter-Polymorphismen beschrieben. Der Polymorphismus C-592A wurde in einer Vielzahl von Studien mit der Progression der Parodontitis assoziiert. Das A-Allel geht sowohl in vitro als auch in vivo mit einer verminderten IL-10-Synthese einher. Claudino et al. konnten zeigen, dass der Polymorphismus hetero- und homozygot verändert (CA und AA) signifikant gehäuft bei Parodontitispatienten vorkommt. Sie wiesen zudem nach, dass bei Trägern des A-Allels die verminderte IL-10-Freisetzung mit deutlich niedrigeren Mengen an TIMP-3 und OPG einhergeht. Die damit einhergehende erhöhte Knochenresorption und gesteigerte Gewebedestruktion zeigte sich klinisch an der signifikanten Zunahme der Taschentiefen bei A-Allel-Trägern.
Vitamin-D-Rezeptor
Der Vitamin-D-Rezeptor (VDR) ist ein Transkriptionsfaktor, der die biologischen Effekte des Vitamin D (Calciferol) an den Zielzellen vermittelt. Dies geschieht, indem VDR ähnlich wie NFkB im Zellkern gezielt die Transkription von Genen an- und abschaltet. Der Fakt, dass Vitamin D eine zentrale Rolle im Knochenstoffwechsel, in der Immunantwort und im Kalzium- und Phosphatstoffwechsel spielt, erklärt, dass Polymorphismen im VDR-Gen in einer Vielzahl von Studien auf ihren Zusammenhang zur Parodontitis hin untersucht wurden. Das VDR-Gen liegt auf dem Chromosom 12. Ein T/C-Polymorphismus an der Stelle 1056 im Exon 9 wurde gehäuft bei Patienten mit chronischen Verläufen der Parodontitis nachgewiesen.
Anwendung der Parodontitisgenetik in der klinischen Diagnostik
Unter Berücksichtigung der dargestellten Tatsachen wird deutlich, dass die Parodontitis nicht mehr ausschließlich als ein infektiologisches Problem angesehen werden sollte, sondern vielmehr als ein immunologisches Geschehen.
Das bedeutet zum einen, dass Bakterien zwar einen wichtigen Trigger darstellen, dass das eigentliche Problem bei therapieresistenten und progredient verlaufenden Parodontitiden aber die übersteigerte Entzündungsantwort des Patienten ist. Der immunologisch geprägte Ansatz erklärt auch, warum systemische Entzündungserkrankungen, wie Diabetes oder kardiovaskuläre Erkrankungen, auch ihrerseits die Entzündungssituation am Parodont verstärken können.
Andererseits können insbesondere bei Patienten mit genetisch bedingt erhöhter Entzündungsneigung neben den bakteriellen Antigenen auch zelluläre Sensibilisierungen auf Zahnersatzmaterialien als Entzündungsauslöser Bedeutung haben. Es ist offenkundig, dass die Parodontitis, wie andere entzündliche Schleimhauterkrankungen auch, hinsichtlich ihres Auslösers nicht monokausal bedingt sein muss.
Die Kenntnis des individuell vorherrschenden Verhältnisses zwischen Entzündungsförderung und Entzündungshemmung gibt einen prognostischen Hinweis für den Erkrankungsverlauf, dient aber vor allem bei therapieresistenten Verlaufsformen auch zur Therapieoptimierung.
Nicht selten tritt die Konstellation auf, dass nach einer antibiotischen oder manuellen Therapie die Markerkeimnachweise vorübergehend rückläufig sind, klinisch das Entzündungsgeschehen aber persistiert und (wenn untersucht) die Erregerlast im weiteren Verlauf wieder zunimmt. Bei Nachweis einer erhöhten genetischen Entzündungsneigung sollten daraufhin folgende zusätzliche Aspekte in das Behandlungskonzept einbezogen werden:
- Sensibilisierungen auf Zahnersatzmaterialien und weitere odontogene Störfaktoren sollten gezielt gesucht und saniert werden.
- Zusätzlich zur lokalen manuellen Therapie sollte ein antientzündlicher Therapieansatz gewählt werden, der in der Regel in Kooperation mit dem behandelnden Hausarzt realisiert wird. Es wäre wünschenswert, auch lokale nicht steroide antiinflammatorisch wirkende Substanzen einzusetzen, wie z.B. bestimmte Ziehöle. Hier fehlen allerdings Produkte am Markt, die mit entsprechender Deklaration auch von Zahnärzten verwendet werden können.
- Wichtig ist, dass diese Patienten keine immunstimulierende Therapie erhalten, was in der Praxis leider häufig (ohne Rückmeldung an den behandelnden Zahnarzt) der Fall ist.
In den Fällen einer chronisch progredienten Parodontitis, in denen kein erhöhter Entzündungsgrad nachgewiesen werden kann, sollten auch andere immunologische Prädispositionsfaktoren beachtet werden, welche die Schleimhautimmunfunktion herabsetzen können (IgA, mannosebindendes Lektin, Granulozytenfunktion).
Das Wissen um die genetische Disposition zu einem progressiven Verlauf der Parodontitis sollte helfen und Anlass sein, den Patienten bezüglich Nikotinverzicht und Intensivierung der Mundhygiene zu motivieren. In solchen Fällen empfehlen sich zudem engmaschigere Recall- und Prophylaxe-Intervalle.
Die Kenntnis des genetisch determinierten Verhältnisses zwischen Entzündungshemmung und Entzündungsförderung kann somit einen prognostischen Hinweis auf Verlauf und Therapie bei chronisch entzündlichen Parodontalerkrankungen geben.
Quelle: ZWR 2011; 120(3): 94-101, DOI: 10.1055/s-0031-1275608